Sechs Stunden in einem Zug in einem großen Land mitten in Europa.
Mensch gehört zu den wenigen, die sich nicht via Kopfhörer wegbeamen.
Und muss auf Reisen gehen.
Im Kopf.
Ein bisschen wider Willen.
Sechs scheinbar harmlose Stunden.
Sechs Stunden und mindestens 5 Geschichten.
Sie beginnen im Kopf zeitgleich mit einem Telefonat zwei Sitzreihen weiter.
Eine Frau, aus Wien kommend. Irgendwohin zurückreisend.
Sie telefoniert mit ihrer Nichte. Und mit ihrer Schwester.
So laut, dass die perfekt Deutsch und Russisch sprechende Frau neben Mensch den Kopf schüttelt.
Die andere Frau, die Tante, nimmt es nicht wahr.
Eine gut gekleidete, ältere Frau.
Auf der Suche nach einem Sitzplatz.
Sie landet eine Reihe hinter Mensch.
Und wenige Augenblicke später erzählt sie dem Mann hinter Mensch Stück für Stück aus ihrem Leben.
Ungefragt.
Wienerin. Ärztin. Wohin sie fährt und warum.
Ihr Gesprächspartner hört geduldig zu.
Mensch fragt sich, ob der Mann neben ihr lieber seine Ruhe hätte.
Doch schließlich klinkt er sich zunehmend in den monologen Dialog der Ärztin ein.
In ihre Erzählungen aus einer anderen Zeit. In ihre fachlichen Ausführungen.
Mensch weiß schließlich auch über seine Herkunft Bescheid.
Und über seine medizinischen Besonderheiten.
Wider Willen.
Weiter links, einige Zeit später.
Zwei junge Frauen unterhalten sich köstlich.
Bis sie eine adrette, ältere Frau mit langem, grauem Haar in fließendem Englisch fragt, welche Sprache die beiden denn sprechen.
Sie lachen.
Eine der beiden antwortet ebenfalls auf Englisch.
Und fasziniert die sich zu erkennen gebende Linguistin mit dem grauen Haar mit einer Mischung aus Türkisch und Italienisch als Muttersprache.
Die jungen Frauen erzählen von ihren gemeinsamen Reisen. Von Italien, von Prag. Von Sprech- und Lebensgewohnheiten.
Der vermeintliche Patient hat den Zug verlassen.
Nicht ohne eine Visitenkarte der älteren Ärztin.
Letztere sitzt nun neben einer Frau.
Auch sie darf an der Lebensgeschichte der Medizinerin teilnehmen.
Muss.
Die Mädchen unterhalten sich nun mit einer weiteren jungen Frau.
Englisch ist die Sprache der Wahl.
Von Schulsystemen ist die Rede. Und von dem Studium der jungen Frau.
In Zürich.
Da will sie gerade hin.
Mensch erscheint vielleicht als auditiver Voyeur.
Agatha Christie ist in seinem Schoss versunken.
Es ist aber lediglich die Faszination.
Und das mangelnde Talent, sich wegzubeamen.
Einige Dörfer, Städte und Durchsagen später ist auch die Ärztin nicht mehr im Zug.
Auch die jungen Frauen sind verschwunden.
Und die deutschsprachige Russin, oder die russischsprachige Deutsche?
Bleiben die Linguistin mit dem grauen Haar und die Tante mit der lauten Stimme.
Die beiden kommen ins Gespräch.
Über Länder, über Sprachen.
Dienstreisen in die Schweiz und nach Wien bei der einen.
Eine Konsulatsfamilie bei der anderen.
Gefühlt einmal um die Welt in 80 Sekunden.
Die Linguistin muss aussteigen.
Mensch verliert sich im endlich leiser werdenden Zug in seine Gedanken.
Bis er schließlich selbst raus muss.
Bleibt die Tante.
Auch ihre laute Stimme ist nun verstummt.
Auch sie unternimmt vielleicht Kopfreisen.
Irgendwo zwischen den Seiten ihres Buchs.
Mensch kehrt in die eigenen Welt zurück.
Nach sechs scheinbar harmlosen Stunden im Zug.
In einem großen Land mitten in Europa.
KW 1/13
iznak 01/2013